von | Nov. 23, 2022

Erinnerungen des Lehrers Ruckel

Als junger Mann war ich von 1955 – 1961 Dorfschullehrer in Harxheim. In meiner Erinnerung zählt diese Zeit zu den schönsten und interessantesten Jahren in meiner pädagogischen Laufbahn. Auch heute besuche ich zum Weinhöfefst immer noch gerne den Ort und treffe Bekannte aus meiner aktiven Harxheimer Zeit.

„Aus dienstlichen Gründen versetzen wir Sie an die Volksschule Harxheim.“ Aufgrund dieser Anordnung kam ich am 19. April 1955 nach den Osterferien an diese zweizügige Landschule, nicht gerade der Wunschort eines jungen Lehrers, wie ich anfangs dachte. Auf meine Erkundigungen nach dem mir unbekannten Dorf Harxheim erhielt ich die Auskunft: „Ei, hinnerm Berg, in de Palz!“

Um es gleich vorweg zu nehmen, ich unterrichtete sechs Jahre an dieser Schule und es war im Rückblick meine schönste und befriedigendste Dienstzeit, die ich in meiner beruflichen Laufbahn erleben durfte. Wunschgemäß übernahm ich die Oberstufe in einem der damaligen Zeit üblichen Klassenraum: kahle Wände, hintereinander stehende Zweierbänke mit Klappsitzen und aufklappbaren Schreibflächen, vorne der erhöhte Lehrerpult. Neben der Tür stand der große, runde Ofen, den der Hausmeister morgens anheizte. Der Lehrer sorgte durch Kohlen nachschütten, dass das Feuer am Brennen blieb. Je nach Witterungslage qualmte es manchmal so heftig, dass wir ins Freie flüchteten und den Unterricht dort fortsetzten.

Klassenzimmer in der Schule

Bildquelle: Friedrich Ruckel

Unterricht

Bildquelle: Friedrick Ruckel

Mit meinem neuen Kollegen Walter Ferger verstand ich mich auf Anhieb sehr gut. Wir hatten die gleichen Vorstellungen hinsichtlich Erziehung, pädagogischer Führung und Unterrichten.

Als Schulleiter ließ er mir doch jederzeit freie Hand für meine Arbeit und es entwickelte sich rasch eine herzliche, ungetrübte Freundschaft, die bis zu seinem Tod andauerte. Von ihm stets unterstützt, konnte ich all meine Vorstellungen von moderner Pädagogik in die Tat umsetzen.

In Absprache mit Eltern, Schülerinnen und Schülern organisierten wir neue Arbeitsformen wie Gruppenarbeit, selbständiges Bearbeiten eines Wochenplanes, forschenden Experimental- und Epochalunterricht und versuchten, vom gängigen Frontalunterricht weg zu kommen. Das bedingte eine Umstellung auf mehr eigenständiges Lernen und Handeln und größere Mitsprache und Entscheidungsfindung für die Schülerinnen und Schüler. Schule sollte mehr Freude und Spaß machen und auf lebenspraktische Bedürfnisse eingestellt sein. Meine Vorstellungen fanden Unterstützung und wurden von allen gerne angenommen.

Anstelle in übliche Hefte schrieben wir auf DIN-A4-Blätter, die wir in Mappen und Ordnern einhefteten und mit passenden Bildern und anderen Texten anreicherten. Fehlerhafte und unordentliche Ausführungen konnten so leicht ausgewechselt werden. Aufsätze sammelten wir themenweise in selbstgefertigten Mappen, die im Kunstunterricht noch ausgestaltet wurden. Die Sachgebiete der verschiedenen Fächer wurden epochal umfassend bearbeitet, d.h. ein bestimmtes Fach dominierte eine Woche das gesamte unterrichtliche Geschehen, ergänzt von passenden Beiträgen der anderen Fächer.

An selbstgestalteten Preislisten übten wir täglich Kopfrechnen, Kurzdiktate vertieften die orthographischen Kenntnisse und Tests nach jeder Lektion überprüften und sicherten das erworbene Wissen. Mit eigenen Testvorschlägen schlüpften die Kinder in die Rolle des Lehrers, der dann auf dem jeweiligen Schülerplatz – zur Freude der Klasse – diesen Test selbst mitschrieb.

Im Sinne des Experimentierens und Forschens starteten wir verstärkt Unterrichtsgänge und Versuchsreihen aus allen Fachbereichen. Die Aufträge wurden gruppenweise abgearbeitet und die Ergebnisse verschriftlicht.

Jeden Samstag wurde der „Fragekasten“ geleert, in dem die Schüler anonym Fragen und Wünsche, etc. äußern konnten. Aus dem Lexikon übernommene schwierige Fragen, die den Lehrer in Verlegenheit bringen sollten, unterblieben sehr rasch, da der Lehrer freimütig seine Unkenntnis eingestand und im Lexikon die Erklärung von den Kindern suchen und vorlesen ließ. Interessant war unser „Sütterlin- Tag“, an dem wir samstags alle Tafeltexte in dieser Schrift eintrugen. Diese Schrift hatten wir im Schönschreib-Unterricht, der damals  noch laut Lehrplan erteilt wurde, geübt. Die Kinder freuten sich, Omas Briefe wieder lesen zu können.

Der Schule stand anfangs ein geringer Jahresetat von 250 Mark zur Verfügung, Lehr- und Lernmittel fehlten weitgehend. Wegen fehlender Landkarten zeichnete ich mit bunter Kreide eine Welt- und Europakarte an die Wand des Schulsaals und schnitt aus Pappe Schablonen von geographischen Gebieten, Pflanzen, Tiere und Organen, etc., die dann mit Bleistift umfahren werden konnten. Bei einer besseren finanziellen Ausstattung hätte man das mit einem großformatigen Stempel einfacher erledigen können.

Ergänzend zum Unterricht besuchten wir Industrieunternehmen, Behörden und öffentliche Einrichtungen, wie Blendax-Werke, Kläranlage, Wasserwerk, Druckerei, Allgemeine Zeitung, Gerichtsverhandlung, Museen, Sparkasse und Stadtverwaltung. Zuvor fragten wir höflich an und lernten so, Briefe zu formulieren und unsere Bitte in geeigneter Form kund zu tun. Voll Spannung erwarteten wir dann den Briefträger mit den Antwortschreiben. Oftmals kamen auch Einladungen zu weiteren Besichtigungen und man freute sich stets über unser Interesse. Immer wurden wir freundlich empfangen, meist auch gut bewirtet und wir erhielten bündelweise Werbeprospekte und Materialien, die unserer unterrichtlichen Nachbereitung sehr zu Gute kamen. Oft nutzten die Firmen und Behörden unsere Besuche auch zur eigenen Werbung und baten die Presse zu den Treffen dazu. Auf diese Weise wurde auch die Harxheimer Schule bekannter.

Stadtansicht von Mainz im Klassenraum

Bildquelle: Friedrich Ruckel

Ein besonderes Projekt war eine sechs Meter lange Gemeinschaftsarbeit aus dem bildnerischen Bereich, die wir im Unterricht und an vielen Nachmittagen anfertigten. Dieses Bildwerk stellte die Stadtansicht von Mainz, von der Mainz-Kasteler Rheinseite aus gesehen, dar. Dazu fuhren wir mehrmals zum rechten Rheinufer und jedes Kind suchte sich ein markantes Gebäude, ein Schiff oder Fahrzeug aus. Größere Objekte wie Brücken, Eisenbahnzüge, etc. wurden von Gruppen bearbeitet.

Außerdem sammelten wir Bildmaterial von den Bauwerken und ich erzählte vom historischen Hintergrund. Oft brachten auch die Eltern und Verwandten noch Beiträge, so dass das Ganze zu einer interessanten, lebendigen Unterrichtseinheit gedieh, an der alle mit Fleiß und Hingabe arbeiteten. Dass die Mainzer Allgemeine Zeitung darüber ausführlich berichtete, steigerte noch die Freude und den Stolz der Klasse an diesem Werk, an dem alle beteiligt waren.

Ähnliche Gemeinschaftsleistungen waren unsere jährlichen Aufführungen, an denen prinzipiell alle Schülerinnen und Schüler teilnahmen. Diese Spiele fanden im vollbesetzten alten Kulturheim statt.

Die erforderlichen Kulissen und Ausstattungen fertigten wir in der Regel selbst im Werkunterricht an. Es war eine großartige Leistung der Mitspieler, die die verschiedenen Rollen und die meist selbstgereimten Beiträge auswendig lernten und viel Freizeit für die Proben opferten.

Die zahlreichen Besucher verbesserten auch unsere finanzielle Situation und der Sportverein konnte von uns auch mit einer Ballspende für die Überlassung der Halle bedacht werden.

Laienspiel im Kulturheim

Bildquelle: Friedrich Ruckel

Einnahmen brachte uns auch das damals sehr aktuelle Schulsparen, bei dem wir mehrmals als erster Sieger von der Kreissparkasse mit einer Prämie ausgezeichnet wurden. Die Gestaltung eines Schalters zum Weltspartag bei der Hauptstelle der Kasse in Mainz bereicherte unseren Kunst und Werkunterricht und war ebenfalls lohnend für unsere Klassenkasse. In lebhafter Erinnerung sind unsere jährlichen, mehrtägigen Wanderfahrten in die umliegenden Mittelgebirge und Waldgebiete. Sie förderten in besonderem Maße das Gemeinschaftsgefühl und den Zusammenhalt der Klassen und sind heute noch bevorzugter Gesprächsstoff bei Treffen von ehemaligen Schülerinnen und Schülern mit ihrem inzwischen alten Lehrer. Diese Wanderfahrten sind in von den Kindern gestalteten Fahrtenbüchern festgehalten und eine erfreuliche Erinnerung an gemeinsame Unternehmen.

Mit den Kindern, die auf freiwilliger Basis an unserem Französischkurs teilnahmen, fuhren mein Kollege Walter Ferger und ich zur Belohnung über drei schulfreie Tage zum Zelten nach Freilingen in den Westerwald. Wir verpflegten uns selbst unter Einsatz eines Camping-Kochers. Eines Abends, es gab Erbswurstsuppe mit Nudeln, Fleischwurst und Brötchen, meinte ein Schüler nach dem Essen: „Herr Lehrer, so gut wie Sie konn moi Mudder nit koche!“ Das war ein schönes Lob für unser freiwilliges Engagement.

Nicht zu vergessen sind auch unsere Fastnachtsfeiern in der Schule, für die die Kinder den Saal bunt schmückten und kostümiert und maskiert morgens erschienen. Aus Platzmangel wurde der Elferrat auf fünf Mitglieder reduziert, die närrischen Beiträge aus einer echten Holzbütte vorgetragen und mit selbstgefertigten Orden belohnt.

Fassnachtsfeier in der Schule

Bildquelle: Friedrich Ruckel

„Auf der schwäb’schen Eisenbahn“ während der Fassnachtsfeier in der Schule

Bildquelle: Friedrich Ruckel

Vieles wäre noch zum Thema „Schule als Lern- und Lebensort“ zu berichten, wie zum Beispiel die Fahrten ins Schwimmbad nach Nieder-Olm, zu dem uns ein Vater mit dem Traktor bei heißem Sommerwetter hinbrachte, das Schlittenfahren und Schneemann bauen bei Schneefall und die Besuche benachbarter Schulen.

Meine Beziehung zu Harxheim ist natürlich nicht nur durch meinen dienstlichen Einsatz geprägt, sondern beruht auch auf persönlichen Kontakten. Zu nennen sind hier u.a. Lottchen und Michel Kehle, bei denen ich Unterkunft und familiären Anschluss fand. Ebenso Käthchen Fritzsch und Familie, die noch bestens für mein leibliches Wohl sorgten. Ebenso der freundschaftliche Kontakt zu meinen Nachbarn Georg und Katharina Lenz, wobei ich mit Georg Lenz in der fünften närrischen Jahreszeit oft bis tief in die Nacht Vorbereitungen für die Sitzungen der HKG traf. Für das gute Einvernehmen zwischen Schule und Sportverein sorgte die Zusammenarbeit mit Fritz Horz, durch den auch mein Einsatz als Kreisschülerwart des Landkreises Mainz zustande kam. Abschließend kann ich feststellen, dass ich mich in der Dorfgemeinschaft angenommen und voll integriert fühlte. Es war eine prägende, außerordentlich schöne und lehrreiche Zeitspanne meines beruflichen und privaten Lebensweges.

Quellenangaben:

Friedrich Ruckel

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