von | Mrz 1, 2023

Jüdisches Leben in Harxheim: Fam. Moritz und Katharina Gutha Mayer

In der Untergasse 13 lebte eine weitere Familie mit Namen Mayer: Moritz (geb. am 17.10.1879 in Harxheim) und Ehefrau Katharina Gutha, geb. Reinheimer (geb. am 05.05.1879 in Reinheim bei Dieburg) sowie die beiden Söhne Julius und Friedrich.

Moritz und der in der Untergasse 19 lebende Ferdinand Mayer waren Cousins. Moritz‘ Vater Gottschalk (24.12.1852 – 04.09.1941) war der Bruder von Ferdinands Vater Jakob III. (13.11.1850 -15.10.1921). Gottschalk Mayer war von Beruf Kaufmann und mit Babette, geb. May (01.03.1851 – 18.08.1914) verheiratet. Sein Bruder Jakob III. ehelichte Babettes Schwester Sara, geb. May (10.04.1841 – 07.07.1903). Die May-Schwestern stammten aus Geinsheim.

Moritz selbst überlebte als einziger seine fünf Geschwister. Letztere starben alle innerhalb der ersten beiden Lebensjahre.  1) 2)

Moritz, seine Frau Katharina und Vater Gottschalk wohnten in einem kleinen, bescheidenen Anwesen, das in den 1970er Jahren abgerissen wurde. Er war wie sein Vater Kaufmann und betrieb einen Wein- und Getreidehandel. Daneben verkaufte er als Handelsreisender Stoffe, Kurzwaren und sonstige Dinge des täglichen Bedarfs. 3)

Als deutscher Soldat kämpfte Moritz Mayer im Ersten Weltkrieg als Landsturmmann im Inf.-Reg. 42 an der Ostfront. Bei Bukarest wurde er am 20. Dezember 1916 erstmals schwer verwundet. Nach seiner Genesung im israelitischen Lazarett in Frankfurt war er erneut in Rumänien an der Front, wo er am 26. Juli 1917 gemäß den Aufzeichnungen des Pfarrers Würth vom 14. September 1917  bei einem nächtlichen Einsatz in eine 30 Meter tiefe Schlucht stürzte und sich dabei beide Arme brach. 4) Hierbei verlor er vermutlich einen Arm. Er war Träger des Eisernen Kreuzes. 5)

Verschiedene Harxheimer und Lörzweiler Zeitzeugen berichteten gegenüber Rüdiger Gottwald, dass Moritz Mayer nach dem Ersten Weltkrieg regelmäßig, mehrere Stoffballen geschultert, zu Fuß seine Kundschaft besucht und trotz seines Handicaps geschickt mit den schweren Stoffen hantiert hätte. Moritz wurde als ein eher einfacher, aber stets freundlicher und hilfsbereiter Mensch beschrieben.

Der älteste seiner beiden Söhne, Julius (10.06.1907 –  11.06.1923) ging zur Handelsschule in Mainz. Er starb an den Folgen eines Verkehrsunfalls. 6)

Der zweite Sohn Friedrich (22.05.1908 – 11.12.1997) zog nach dem Schulabschluss nach Frankfurt, wo er am 18. August 1938 die aus Trebur stammende Gertrude (Sara) Strauß (17.06.1912 – 09.12.1997) heiratete. Friedrich und seine Frau waren dort im Sandweg 40 gemeldet. Als Beruf gab er Kaufmann an. 1) 2) 7)

Vater Moritz versuchte aufgrund des von den Nationalsozialisten ausgeübten Drucks auf die jüdische Bevölkerung bereits 1938 seinen Grundbesitz an Harxheimer Mitbürger zu verkaufen. Es ging dabei um seine bescheidene Hofreite sowie einige Parzellen Ackerland. Das Vorhaben blieb zunächst erfolglos. Moritz, Katharina und der Vater Gottschalk wurden Anfang September 1939 gezwungen, nach Mainz in ein sogenanntes Judenhaus in der Walpodenstraße 17 zu ziehen. Die Judenhäuser waren berüchtigte Quartiere, die durch massive Überbelegung und verheerende hygienische Zustände gekennzeichnet waren. Von Mainz aus bemühte sich Moritz weiterhin um potenzielle Käufer für seinen Harxheimer Grundbesitz. Gemäß der ausgewerteten Dokumente erfolgten die Verkäufe zwischen Dezember 1939 und März 1940. Dies war zu spät, um mit dem Erlös noch eine Flucht ins Ausland zu finanzieren. Mit Kriegsbeginn am 1. September 1939 war dies aufgrund der Grenzschließungen nicht mehr möglich. Die Folgejahre bis zu ihrer Deportation verbrachten das Ehepaar in der Walpodenstraße unter menschenunwürdigen Bedingungen. 8) 12)

Wohnsitz des Ehepaars Mayer zwischen 1939 und 1942, Walpodenstraße 17 in Mainz

Bildquelle: Siegfried Schäfer

Ehem. Judenhaus, Gedenktafel, Walpodenstraße 17, Mainz

Bildquelle: Siegfried Schäfer

Moritz kränkelnder Vater Gottschalk verstarb am 4. September 1941 im Jüdischen Krankenhaus in Mainz. Er ist auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Mainz beigesetzt. 17)

Zeitzeuge Hans Kessel aus Harxheim berichtete in einem Interview 2016, dass sich sein Vater bei Besuchen in Mainz in den Jahren 1939 – 1942 des Öfteren mit Moritz Mayer traf. Dieser sei stets an Neuigkeiten aus seiner Heimatgemeinde interessiert gewesen und der Informationsaustausch wäre im Flüsterton und unter Wahrung eines größeren Abstandes erfolgt. Dies geschah aus Angst vor Denunziation und Bespitzelung, da der Kontakt zwischen „Volksdeutschen“ und Juden unter Androhung drakonischer Strafen streng untersagt war.

Moritz und Katharina Mayer wurden am 27. September 1942 von Mainz über Darmstadt in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Die Deportation wurde in einem Sammeltransport mit insgesamt 1.288 Menschen jüdischen Glaubens durchgeführt. Moritz Mayer und seine Frau haben Theresienstadt nicht überlebt. Als Todesdatum von Moritz Mayer ist der 17. Mai 1944 angegeben, das Todesdatum seiner Frau Katharina ist der 21. September 1944. 8) 15)

Auszug aus einer von der Gestapo Darmstadt ausgestellten Deportationsliste, September 1942 (Abschrift)

Bildquelle: LA Speyer, J10  Nr.1969

Die noch verbliebenen Guthaben des Ehepaares Mayer wurden nach ihrer Deportation Ende Oktober 1942 durch die kontoführenden Banken in Mainz auf das Sonderkonto H (Heimeinkauf) bei der Bezirksstelle Hessen der Zentralstelle der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland mit Sitz in Berlin überwiesen. Diese Behörde wurde vom Reichssicherheitshauptamt kontrolliert. Unter Druck der Gestapo und mit dem Vorwand, dass die überwiesenen Guthaben u.a. für die Finanzierung des Aufenthaltes im „Altenghetto Theresienstadt“ verwendet werden würden, wurden die Mayers wie viele andere jüdischen Mitbürger über die wahre Situation arglistig getäuscht. Die Gelder waren durch diesen Schritt dem Zugriff ihrer rechtmäßigen Eigentümer endgültig entzogen und diese um ihr Vermögen betrogen. 12) 15) 16)

Nach dem Pogrom am 9. November 1938 wurde Moritz‘ Sohn Friedrich Mayer am 13. November in Frankfurt im Rahmen einer großangelegten Inhaftierungswelle direkt „als Aktionsjude“ von der SS  verhaftet und in das Sammellager in der Frankfurter Festhalle verbracht. Die dort herrschenden Umstände sowie der Umgang der SS-Bewacher und der Gestapo mit ihren Gefangen seien gemäß Augenzeugenberichten unbeschreiblich und an Brutalität und Menschenverachtung nicht zu überbieten gewesen. Von dort wurde Friedrich Mayer mit insgesamt 534 Männern in zwei Sammeltransporten am 14. November von Frankfurt in das KZ Dachau transportiert. Er trug, „einklassifiziert“ als SchJ (Schutzhaft, Jude), die Häftlingsnummer 25707.  9) 10) 11) 12)

Zugangsbuch des KZ Dachau, Häftlingsnummer 25707, Friedrich Mayer

Bildquelle: Copy of 1.1.6.1 / 130429599 in conformity with IST Digital Archive. Arolsen Archives. Zugangsbücher Konzentrationslager Dachau.

Die grausame und brutale Lagerhaft in Dachau sollte die Gefangenen mit allen Mitteln dazu zu nötigen – sofern sie die Lagerhaft lebend überstanden – nach Freilassung ihren materiellen Besitz unter Abzug vielfältiger Sondersteuern und Zwangsabgaben umgehend zu verkaufen und danach möglichst schnell Deutschland zu verlassen. An faire Preisstellungen für das zu veräußernde Hab und Gut war in dieser Konstellation kaum zu denken. 12)

Schreibstubenkarte mit Häftlingsnummer und Entlassungsdatum von Friedrich Mayer

Bildquelle: Copy of 6.3.3.2 / 93642845 in conformity with IST Digital Archive. Arolsen Archives. Korrespondenzakte T/D-319354.

Nach seiner Entlassung aus Dachau am 28. Dezember 1938 kümmerte sich Friedrich umgehend um die Beschaffung von Ausreisedokumenten für seine Frau Gertrude und sich. Die Ausreise vollzog sich sehr wahrscheinlich zunächst mit der Bahn nach Amsterdam und von dort weiter nach England. Von South Hampton aus startete das Ehepaar am 15. November 1939 mit der SS President Harding die Überfahrt in die USA, das Schiff kam am 24. November 1939 in New York an. Das Ehepaar fand dort zunächst Unterkunft bei George Swanson, einem Cousin von Friedrich. 13) 14)

Friedrich Mayer, der sich seit seiner Flucht in die USA Frederick nannte, besuchte nach dem Krieg mehrfach Harxheim. Er führte zwischen 1949 bis 1952 sechs Zivilprozesse zum Erhalt von Entschädigungen, da der Verkauf seines Elternhauses sowie des weiteren Grundbesitzes im Zuge der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen gegen die Juden erfolgt war. Die Verfahren endeten allesamt mit einem Vergleich. 15)

Frederick Mayer verstarb am 11. Dezember 1997, zwei Tage nach seiner Frau Gertrude. Beide sind in Silver Spring, Montgomery, Maryland, USA beigesetzt. 18)

Inhaftierungsbescheinigung des Internationalen Roten Kreuzes von Friedrich Mayer

Bildquelle: Copy of 6.3.3.2 / 93642845 in conformity with IST Digital Archive. Arolsen Archives. Korrespondenzakte T/D-319354.

Quellenangaben:

1) Archiv der Verbandsgemeinde Bodenheim; Personenstandsregister der Mairie Harxheim-Gau-Bischofsheim.

2) Gemeindearchiv Trebur.

3) HHStA. Wiesbaden Abt. 518-775574.

4) Würth, Johannes (1909-1920): Aufzeichnungen in der Gemeindechronik der evangelischen Kirchengemeinde Harxheim. Archiv der evangelischen Gemeinde Harxheim.

5) Licht, Hans. Ortschronik der Gemeinde Harxheim.

6) Stadtarchiv Mainz. Mainz, Sterberegister. Meldung der Staatsanwaltschaft beim Landgericht. Urkunde Nr. 90, 1924.

7) Copy of 6.3.3.2 / 93642842 in conformity with IST Digital Archive. Arolsen Archives. Korrespondenzakte T/D-319354.

8) Das Gedenkbuch des Bundesarchives für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933-1945).

9) Copy of 1.1.6.7 / 10705805 in conformity with ITS Digital Archive. Arolsen Archives. Schreibstubenkarten Dachau.

10) Copy of 1.1.6.1 / 9892713 in conformity with ITS Digital Archive. Arolsen Archives. Zugangsbücher des Konzentrationslagers Dachau.

11)  Copy of 6.3.3.2 / 93642842 in conformity with ITS Digital Archive. Arolsen Archives. Korrespondenzakte T/D-319354.

12)  Kingreen, Monica (1999): Von Frankfurt in  das KZ Dachau. In: Nach der Kristallnacht – Jüdisches Leben und antijüdische Politik in Frankfurt/M. 1938-45 Frankfurt/NewYork 1999. S. 55-89.

13)  Copy of 6.3.3.2 / 93642845 in conformity with ITS Digital Archive. Arolsen Archives. Korrespondenzakte T/D-319354.

14)  Quellenangabe: Jahr 1939, Ankunft: New York, New York, USA, Seriennummer des Mikrofilms: 1715, 1897-1957, Gesellschaft:6, Seiten Nr. 6. Entnommen über Stadtarchiv Mainz. 2/2023
Quelleninformation: Ancestry.com.New York, USA, Liste ankommender Passagier und Besatzungen (einschl. Castle Garden und Ellis Island), 1820- 1957 [database on-line]. Lehi, UT,USA: Ancestry.com Operations, Inc., 2022. Entnommen über Stadtarchiv Mainz. 2/2023

15)  Landesarchiv Speyer. Bestand J10. Zivilprozesse Nr. 1966-1970 sowie 3896.

16)   www.ghetto-theresienstadt.info

17)   Stadtarchiv Mainz. Mainz, Sterberegister 1941, Band 3.; Informationen der Friedhofsverwaltung Mainz

18) Quellenangabe: Social Security Administration; Washington D.C., USA; Social Security Death Index, Master File. Entnommen über Stadtarchiv Mainz. 2/2023
Quelleninformationen: Ancestry.com. USA, Sterbeindex der Sozialversicherung, 1935-2014 [database on-line] , Provo, UT, USA: Ancestry.com Operations Inc., 2014. Entnommen über Stadtarchiv Mainz. 2/2023

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