Jüdisches Leben in Harxheim: Herta Mayer
Herta Mayer, geboren am 17. Juli 1913 in Harxheim, war die jüngste der drei Mayer-Schwestern. Nach dem Besuch der Volksschule in Harxheim wechselte sie auf die höhere Mädchenschule (das heutige Frauenlob-Gymnasium) nach Mainz. Dort machte sie mit Bestnoten im März 1933 das Abitur. 1) 2)
Die Autorin Angelika Rieber hat sich mit dem Leben und Wirken von Herta Mayer im Zusammenhang mit der Organisation von Kindertransporten zur Rettung jüdischer Kinder aus Frankfurt eingehend befasst und hierüber eine Dokumentation verfasst. Sie hatte die Gelegenheit, Herta Mayer 1994 persönlich kennenzulernen und zu interviewen. Viele der nachstehenden Informationen und Fotos stammen aus dem von A. Rieber verfassten Beitrag „Ich konnte die Kinder nicht alleine lassen“. 3)
Volksschule Harxheim, ca. 1920, Schuljahrgänge 1910 bis 1913. Herta (1913, 2. Reihe, 3. v.r.) und Johanna (1910, 3. Reihe, 3.v.r., mit Händen auf Hertas Schultern)
Bildquelle: Sammlung Rüdiger Gottwald
Herta hatte aufgrund ihres hervorragenden Schulabschlusses in Erwägung gezogen, ein Studium der Mathematik und Naturwissenschaften zu beginnen. Dies verband sie mit der Chance, aufgrund ihrer sehr guten Leistungen sogar ein Stipendium zu erhalten. Die Einschränkungen der Nationalsozialisten, den universitären Zugang für jüdische Studentinnen und Studenten auf 1,5% der Studierenden zu begrenzen, zwangen Herta, ihre beruflichen Pläne zu ändern.
Sie begann zunächst eine Ausbildung an einer Haushaltungsschule. 1934 eröffnete sich für sie die Möglichkeit, an der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt in Würzburg ein Lehrerstudium zu beginnen. Diese war eine der wenigen Einrichtungen, die jungen jüdischen Frauen und Männern noch die Möglichkeit einer akademischen Ausbildung bot. Herta arbeitete nach Abschluss ihres Studiums 1936 für etwa ein Jahr als Lehrerin in Höchst/Odw., wechselte dann 1937 an die Jüdische Bezirksschule nach Bad Nauheim. 3) 4)
Diese Schule war erst im gleichen Jahr in den Räumlichkeiten der früheren Israelitischen Kinderheilstätte eröffnet worden. Die Notwendigkeit einer solchen Einrichtung ergab sich aus den Repressalien der Nationalsozialisten, die den Zugang jüdischer Kinder zu Schulen immer stärker einschränkten. Nach dem 9. November 1938 war jüdischen Schülerinnen und Schülern der Zugang zu öffentlichen Schulen generell verwehrt. 3)
Jüdische Bezirksschule Bad Nauheim; Lehrerin Herta Mayer, verkleidet als Schulkind im Rahmen der Purimfeier, 1938
Bildquelle: Sammlung Monica Kingreen
Der Schulbetrieb erfuhr mit der Pogromnacht am 9. November 1938 eine Zäsur. Die männlichen Lehrkräfte wurden verhaftet und kamen ins Konzentrationslager, so auch Hertas ältester, in Frankfurt wohnender Bruder Fritz. Am folgenden Tag wurden die verbliebenen Lehrkräfte und alle Kinder von Nazis aus der Schule herausgetrieben und Inventar und Räumlichkeiten zerstört. Später konnten Lehrkräfte und Kinder wieder in die verwüsteten Gebäude zurückkehren. Dabei dürfte es eine Rolle gespielt haben, dass sich in Bad Nauheim auch ausländische Kurgäste aufhielten. 3)
Spätestens ab diesem Zeitpunkt war allen an der Schule tätigen Lehrkräften und Betreuern klar, dass sich ein geordneter und sicherer Lehrbetrieb nicht mehr aufrechterhalten ließ. Das Zeitfenster für eine Ausreise bzw. Flucht begann sich zu schließen. Unter dieser Maßgabe begannen die Lehrkräfte, Kindertransporte mit Zügen in die Schweiz, nach Holland und nach England vorzubereiten. Herta Mayer war maßgeblich an diesen Vorbereitungen und der Organisation dieser sich sehr schwierig gestaltenden Rettungsmaßnahmen beteiligt. Das Ausland war bei der Aufnahme von jüdischen Kindern zurückhaltend und zögerlich. Für viele Kinder und Eltern sollte sich die Rettung ins Ausland als ein Abschied für immer heraus stellen. 3)
Nach Schätzungen konnte etwa die Hälfte der Nauheimer Schulkinder auf diese Weise gerettet werden. Herta, die sich der Gefahr um ihr eigenes Leben bewusst war, stellte bis zum Tag ihrer Flucht ihr persönliches Wohl hinter das ihrer Schulkinder. 3)
Kurz vor Kriegsbeginn verließ sie am 20. August 1939 ihren Wohnsitz in Bad Nauheim und reiste mit der Bahn zunächst nach Holland und vor dort nach England. Ihr Visum hatte sie sich bereits ein Jahr zuvor beschafft. Sie hatte eine Passage von Southhampton für den 7. September beim Deutschen Llyod gekauft. Aufgrund des Kriegsausbruchs fand diese Reise nicht mehr statt. Herta buchte auf das kanandische Linienschiff Athenia um. Am 2. September, also einen Tag nach dem Überfall Wehrmacht auf Polen, ging sie in Liverpool an Bord mit Ziel Quebec und Montreal. Es befanden sich 1.102 Passagiere (davon 39 jüdische Auswanderer) und 315 Besatzungsmitglieder an Bord. Am 3. September wurde die Athenia irrtümlich von einem deutschen U-Boot torpediert, das Schiff sank, 112 Menschen verloren dabei ihr Leben. Herta verbrachte rund zwei Tage in einem Rettungsboot, bevor sie gerettet wurde. Sie gelangte zurück nach England. Beim Untergang verlor Herta neben ihrem persönlichen Besitz sämtliche Erinnerungsstücke und Fotos aus ihrer Zeit an der Bad Nauheimer Schule. 3) 4) 5) 6)
Herta verbrachte danach vier Wochen in London. Sie bekam von ihren Verwandten in New York 250$ überwiesen, um ein Ticket für eine neue Schiffspassage zu kaufen. Am 8. Oktober 1939 begann Herta ihre Überfahrt in Southhampton mit dem amerikanischen Frachtdampfer American Trader und kam am 18. Oktober 1939 in New York an. In der Wohnung des Ehepaares Halle in der Audebon Av. war Herta wieder mit ihrer Mutter, Simon und ihren Schwestern vereint. Fritz Mayer und seine Familie warteten derweil noch in England auf ihre Weiterreise in die USA. 4) 7)
Herta, zunächst ohne Arbeit, nahm wie auch später ihr Bruder Fritz, nochmals ein Studium auf. Dieses absolvierte sie an der Columbia University School for Social Work in New York. Sie arbeitete später als Sozialarbeiterin bei einer privaten Fürsorgeorganisation in New York. 3) 4)
Herta Mayer blieb unverheiratet, sie verstarb am 1. September 1995 in New York. 5)
Quellenangaben:
1) Archiv der Verbandsgemeinde Bodenheim, Personenstandsregister der Mairie Harxheim-Gau-Bischofsheim; Standesamtsregister Harxheim.
2) Frenzel, Reinhard: Abiturjahrgänge am Frauenlob-Gymnasium in Mainz; Privatarchiv R. Frenzel.
3) Rieber, Angelika u. Till Libertz-Groß, Hrsg.: Rettet wenigstens die Kinder – Kindertransporte aus Frankfurt am Main. Frankfurt 2018, S. 246-257.
4) HHStA Wiesbaden 518-77557.
5) Informationen von Thomas, Sara und Bernie Mayer, (1/2022; 1/2023).
6) wikipedia.org: Athenia (Schiff,1923).
7) United States of America, Bureau of the Census. Sixteenth Census of the United States, 1940. Washington, D.C.: National Archives and Records Administration, 1940. Entnommen aus www.ancenstry.de. (02/2023) über Stadtarchiv Mainz.