von | Nov 29, 2022

Harte Nachkriegsjahre und “Harxheimer Tomaten”

Frühjahr 1945 – Deutschland hatte kapituliert. Rheinhessen wurde nach kurzer Besatzung durch die Amerikaner französische Besatzungszone. Nach harten Kriegsjahren folgten entbehrungsreiche Nachkriegsjahre für die Harxheimer Bevölkerung.

Nach Beschlüssen der Konferenz von Jalta im Februar 1945 wurde der Siegermacht Frankreich als Zugeständnis eine eigene Besatzungszone zugesprochen. Deren Grenze wurde am 22. Juni 1945 zwischen den Amerikanern und Franzosen festgelegt. Das neue Rheinland-Pfalz und damit auch Rheinhessen wurden am 10. Juli 1945 erneut von französischem Militär besetzt, und das nur fünfzehn Jahre nach Abzug der letzten französischen Garnison aus Mainz am 30. Juni 1930. Der Oberbefehl für die neue Zone wurde am 23. Juli 1945 auf General Marie-Pierre Koenig übertragen. Er hatte dieses Amt bis 1951 inne.

Nach dreimonatigem Intermezzo der recht offenen und umgänglichen amerikanischen Besatzer wehte alsbald auch in Harxheim ein rauherer Wind. Die Gemeinde gehörte ab diesem Zeitpunkt zur französischen Kommandatur in Bodenheim. Alle Bürger hatten sich uneingeschränkt nach den Verfügungen zu richten, die im Amtsblatt des französischen Oberkommandos in Deutschland veröffentlicht wurden. Für die Regelung von Angelegenheiten zwischen der Zivilbevölkerung und den Besatzern war ab Juli 1945 das in Oppenheim eingerichtete Bureau de Garnison zuständig.

Die deutschen Besatzer hatten Frankreich nach rund fünf Jahren der Besatzung wirtschaftlich bis an die Grenzen ausgebeutet, hinzu kamen die Verwüstungen durch Bombenangriffe und Kämpfe beim deutschen Einmarsch 1940 und Rückzug ab 1944. Die französische Zivilbevölkerung hatte zudem unter zahlreichen Gräueltaten der Besatzer zu leiden. Entsprechend hart war nun das Auftreten des französischen Militärs gegenüber den Verlierern. Kraftfahrzeuge, sofern nicht schon von der Wehrmacht beschlagnahmt, mussten umgehend den Franzosen übergeben werden. Fahrverbote wurden für Sonn- und Feiertage ausgesprochen. Ausnahmen gab es nur für Behörden und Ärzte.

Der Besitz von Waffen war strengstens untersagt. Schießgerät und Munition sowie Fotoapparate und Ferngläser mussten bei den Kommandanturen abgegeben werden. Hinzu kamen befristete Ausgehverbote.

Die Versorgungslage der Bevölkerung ab Mitte 1945 verschlimmerte sich zunehmend. Dazu kam der Mangel an Brennstoffen. Bei der Brennholzbeschaffung verlor die Harxheimerin Sophie Sparwasser im März 1945 ihr Leben, als die Holzbaracke der ehemaligen Flak-Scheinwerfer- Stellung Auf dem Türkelstein beim Abbruch über ihr zusammenstürzte.

Die allgemeine Situation wurde zusätzlich durch die karge  Lebensmittelversorgung der einfachen französischen Soldaten verschärft. Französische Armeeangehörige bedienten sich dort, wo es noch etwas zu holen gab: bei den einheimischen Bauern. Es begann die Zeit des wilden Requirierens von Rindern, Schweinen und Geflügel. So wurde z.B. in Harxheim nahezu der gesamte Rinder- und Schweinebestand der Familie Frieß von den Franzosen über wenige Wochen hinweg schrittweise beschlagnahmt. Die wichtige Nachzucht von Nutztieren war kaum mehr möglich.

Wohl dem, der sich mit einem kleinen Garten, ein paar Stallhasen oder Tauben über Wasser halten konnte. So berichtete Egon Darmstadt, dass die Familie auf dem Dachboden ihrer Bäckerei einen großen Taubenschlag unterhielt. Über Wochen gab es täglich gefüllte Täubchen, die im hauseigenen Brotbackofen für das Abendessen gegart wurden. Zu dieser Zeit eine wahre Delikatesse!

Die Versorgungslage der rheinhessischen Bevölkerung erreichte zum Jahreswechsel 1946/47 ihren Tiefpunkt. Die täglich zur Verfügung stehende Kalorienzahl pro Einwohner sank auf unter 1.000 Kalorien. Diesem Hungerwinter folgte der sogenannte „Steppensommer“ mit trockenheitsbedingten Ernteausfällen. Zur Jahresmitte war der Rhein über Wochen nahezu ausgetrocknet. Die extremen Witterungsverhältnisse und die Folgen der Zwangswirtschaft ließen die landwirtschaftliche Produktion auf ein bedrohlich niedriges Niveau absinken.

Vom Hunger getrieben strömten Scharen von Hamsterern aus den Städten zu Fuß, per Fahrrad oder in übervollen Schrottel-Zügen nach Rheinhessen und versuchten im Tausch gegen Zigaretten, Alkohol, Schmuck oder Alltagsgegenständen bei den Bauern etwas Essbares zu ergattern. Der Schwarzmarkt blühte.

Durch die Zuweisung von Ausgebombten und Evakuierten, die ihre Wohnungen an die Besatzer abtreten mussten, verschärfte sich die Wohnungsnot auch in den Landgemeinden.

Nach einer Erhebung vom 26. Januar 1946 hatte Harxheim 678 Einwohner (m. 291, w. 387). Während die Zahl der männlichen Einwohner nur leicht über der Zahl von 1933 mit 282 lag (47 gefallene und vermisste Männer waren zu beklagen), war die Zahl der Einwohnerinnen von 254 um 133 angestiegen! Der starke Zuwachs an Frauen und Mädchen entfiel fast vollständig auf ausgebombte Städter sowie einige Flüchtlinge. Die Habseligkeiten dieser Menschen bestanden häufig nur noch aus dem Inhalt des Luftschutzköfferchens. Das neue Zuhause in Harxheim befand sich vielfach in einer Dachkammer oder in einem Verschlag. Die Räume waren oft feucht und kaum beheizbar.

Weinleserinnen 1950

Bildquelle: Christel Deiß

Die Zwangseinquartierung dieser vielfach nur als Kostgänger empfundenen Menschen stieß bei der hiesigen Dorfbevölkerung auf wenig Gegenliebe. Wer wollte schon das Wenige, das man selbst hatte und sparsam bewirtschaftete, auch noch mit Ausgebombten und den Franzosen teilen. Spannungen und Ärger zwischen den Menschen waren an der Tagesordnung, Mitleid war häufig ein Fremdwort. Es herrschte blanke Not. 

Hart und entbehrungsreich war die Arbeit im Feld und in den Weinbergen. Fast alle Harxheimer Bauern- und Winzerfamilien hatten mindestens einen Gefallenen zu beklagen, und viele Männer waren noch in Gefangenschaft. Die Arbeiten, die bis Kriegsende von Fremdarbeitern und Kriegsgefangenen erledigt wurden, mussten nach deren Befreiung durch die Frauen und Mädchen der Familien bzw. durch die Neuen aus der Stadt erledigt werden. Die Devise hieß für diese Menschen: Feld- oder Hausarbeit gegen Brot und Unterkunft. Vielen Städtern allerdings schmeckte diese harte Arbeit nicht.

Erst mit der Währungsreform am 20. Juni 1948 stabilisierte sich die wirtschaftliche Lage. Mit Einführung der D-Mark endeten der Tauschhandel und der Schwarzmarkt. Mit dem beginnenden Wiederaufbau kehrten die ersten Städter Harxheim den Rücken.

Führerschein von Anton Fritzsch aus dem Jahr 1950, ausgestellt durch deutsche Behörden unter französischer Verwaltung

Bildquelle: Anton Fritzsch

Am 2. Oktober 1948 kam die Flüchtlingsfamilie Jerke nach Harxheim. Der Flucht auf dem Frachtschiff Ubena über die Ostsee folgte die Internierung für fast drei Jahre in Dänemark. Nach einem Zwischenstopp im zum Durchgangslager umfunktionierten ehemaligen Konzentrationslager Osthofen kam die Familie auf dem Harxheimer Bahnhof an. Sein Vater, so berichtete Manfred Jerke, rief beim Anblick der Harxheimer Weinberge staunend aus:

„Mein lieber Mann, was haben die Tomatenfelder!“

Quellenangaben:

Rick, Josef (1968): Die Rheinfront: Die Weinbaugemeinde Harxheim. Bechtolsheim. S. 129-131

Mahlerwein, Gunter (2016). Rheinhessen 1816- 2016. Mainz. S. 321-322

Licht, Hans (undatiert). Ortschronik der Gemeinde Harxheim.

Zeitzeugeninterviews von 2016 bis 2021

Eigene Recherchen

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