von | Nov 29, 2022

Friedenstraße

Nach dem 2. Weltkrieg suchten 12 Millionen aus dem Osten stammende Deutsche in der Bundesrepublik eine neue Heimat. So enstand auch in Harxheim zu Beginn der 1960er Jahre in der Friedensstraße eine von vielen Nebenwerbwerbsgruppensiedlungen mit 28 Gebäudeeinheiten für neue Mitbürger.

Der Zweite Weltkrieg war verloren, die ehemaligen deutschen Ostgebiete standen zunächst unter russischer Verwaltung. Grenzen wurden neu gezogen.

In der Zeit nach 1945 haben ca. 12 Millionen Deutsche ihre alte Heimat im Osten teils freiwillig, teils unfreiwillig verlassen. Sie ließen Haus und Hof zurück und suchten im Westen eine neue Zukunft.

Ausweis für Vertriebene und Flüchtlinge

Bildquelle: Willi Parotat

Wohnraum war bis weit in die fünfziger Jahre knapp und begehrt und die Wohnungsnot verringerte sich nur langsam. Mit Unterstützung der öffentlichen Hand, verbunden mit Sonderfinanzierungprogrammen der Deutschen Siedlungs- und Landesrentenbank und der Lastenausgleichsbank, begannen viele Städte und Gemeinden mit dem Neubau von Wohnungen oder ganzen Siedlungen. So entstand auch in Harxheim in den Jahren 1962/63 in der Friedenstraße eine Kleinsiedlung als neuer Ortsteil.

Friedenstraße

Bildquelle: Die Rheinfront Heft 3 „Die Weinbaugemeinde Harxheim“, Bechtolsheim 1968, S.136

Die Projektgesellschaft GFK (Gesellschaft zur Förderung der inneren Kolonisation GmbH, Bad Kreuznach) errichtete insgesamt 28 Siedlerstellen, in der überwiegenden Zahl frei stehende Häuser. Um den Neuankömmlingen eine gewisse Selbstversorgung zu ermöglichen, musste hinter jedem Wohnhaus noch ein kleines Wirtschaftsgebäude errichtet werden. Dies war so ausgelegt, dass die Haltung einer Kuh bzw. von bis zu zwei Schweinen möglich gewesen wäre. Die Neubürger, allesamt mit landwirtschaftlicher Erfahrung, favorisierten allerdings in ihrer im Amtsdeutsch bezeichneten Nebenerwerbsgruppensiedlung ausschließlich die Haltung von Hühnern.

So kamen auch 1963 Ilse und Willi Parotat, Jahrgang 1931 und 1933, mit ihren drei Kindern in Harxheim in der Friedenstraße an und bezogen ihr neues Heim. Einen Monat später folgten noch Ilses Eltern und zogen ins Haus. Jede der beiden Etagen verfügte über eine abgeschlossene Wohnung mit zwei Zimmern, einer Küche sowie einem Bad. Der Preis der recht einfach und zweckmäßig ausgeführten Gebäude einschließlich Grundstück lag nach heutiger Rechnung bei rund 30.000 Euro. Eine zinsgünstige, langfristig ausgerichtete Finanzierung machte den Erwerb möglich. Die Grundstücksgrößen von rund 800 bis 1.000 qm erlaubten den Neubürgern den Anbau von Obst und Gemüse, was zur Entlastung der knappen Haushaltskassen erheblich beitrug.

„Überglücklich waren wir“, erzählte Ilse Parotat, „als wir nach harten und entbehrungsreichen Jahren hier angekommen sind und endlich wieder ein richtiges Dach über dem Kopf unserer jungen Familie hatten.“

Ausgereist waren die Parotats aus Pommern 1957. Über das Durchgangslager Friedland kommend ging es zunächst für fünf Jahre nach Bernkastel-Kues an die Mosel, wo Willi Parotat als Hochspannungselektriker Arbeit fand. Hinter dem Paar lagen zwölf Jahre, die durch russische und später polnische Verwaltung geprägt waren. Die schwierigen Lebensumstände und der Verlust des familieneigenen Bauernhofes waren letztendlich für die beiden ausschlaggebend, Willis Bruder nach Westdeutschland zu folgen und die alte Heimat in Ostpreußen bzw. Pommern hinter sich zu lassen. Der Hinweis eines Beamten im Flüchtlingsamt in Bernkastel-Kues auf ein Siedlungsprojekt in Harxheim führte die Parotats nach Rheinhessen, wo sie nach Antrag eine Grundstücksparzelle zugeteilt bekamen. 

„Der Neustart in der noch fremden Gemeinde war spannend“, meinte Willi Parotat. „Alle Nachbarn hatten in etwa das gleiche Schicksal hinter sich, waren aber voller Freude über die neue Heimat. Wir arbeiteten alle an unseren halbfertigen Häusern was das Zeug hielt. Die Nachbarn standen zusammen, man half und unterstützte sich, wo es nur möglich war.“ „Das Einkaufen war allerdings etwas mühselig“, ergänzte seine Frau Ilse: „Zwischen der Siedlung und dem alten Ort lag entlang der Bahnhofstraße freies Feld und wenn man zu Böllis Lebensmittelladen oder zur Metzgerei Fritzsch wollte, war man für einen Kilometer hin und zurück eine Weile unterwegs.“

Auf die Frage nach der Integration und Aufnahme der Neubürger durch die alteingesessenen Harxheimer antwortete Willi Parotat: „Ilse ging gleich in den Gesangverein und ich zur SG 03. Das war alles kein Problem. Alle waren uns gegenüber höflich und zuvorkommend.“ Willi Parotat fand bald nach dem Einzug Arbeit bei OPEL in Rüsselsheim, wo er bis zu seinem Ruhestand tätig war. In seiner freien Zeit fungierte er als Gerätewart bei der SG 03, war Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr und wirkte über Jahre mit vollem Einsatz als Gemeindearbeiter. Am 5. August 1968 erblickte Sohn Udo als fünftes Kind der Familie das Licht der Welt. Der 1.000. Einwohner Harxheims war geboren. Das Ereignis wurde groß gefeiert und die Mainzer Allgemeine Zeitung berichtete darüber.

Heute ist die Friedensstraße mit dem alten Ort zusammengewachsen. Zufrieden und dankbar blicken Ilse und Willi Parotat auf die Jahrzehnte in ihrer Gemeinde zurück. Die alte Heimat ist nicht vergessen, aber hier in Harxheim haben sie Wurzeln geschlagen. Während Ilse Parotat sich nie so ganz mit dem Wein anfreunden konnte, gehört für Willi Parotat ein gutes Gläschen Harxheimer Wein auf jeden Fall zum guten Leben dazu.

Allgemeine Zeitung, Mainz, 5. August 1968

Bildquelle: Willi Parotat Allgemeine Zeitung, Mainz, 5. August 1968

Quellenangaben:

Zeitzeugeninterviews und -berichte von 2016 bis 2021

Private Unterlagen von Ilse und Willi Parotat

Eigene Recherchen.

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